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Urteil zur Sicherungsverwahrung
Kurz vor Weihnachten 2009 machte sich ein Urteil des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) mit Sitz in Strasbourg Schlagzeilen. Konkret ging es um einen in Schwalmstadt (Hessen) inhaftierten Sicherungsverwahrten, der gegen seine fortdauernde Verwahrung bis nach Strasbourg zog, wo ihm nun der EGMR eine Verletzung seiner Menschenrechte bescheinigte und zudem 50.000 Euro Geldentschädigung zuerkannte.
Im Folgenden möchte ich erst die rechtlichen Hintergründe der Sicherungsverwahrung (1.), danach den Fall des Beschwerdeführers (2.) und hieran anschließend die Entscheidung des EGMR (3.) darstellen, um mit einem kurzen Resümee (4.) zu schließen-
1.) rechtliche Hintergründe der SV
Die SV geht zurück auf das von den Nationalsozialisten 1933 eingeführte Gewohnheitsverbrechergesetz und gestattet dem Staat, einen Gefangenen auch über die eigentliche Strafzeit hinaus in Haft zu verwahren, wenn dieser für die Allgemeinheit - wie es im Gesetz heißt - "gefährlich" ist. Bis 1998 gestattete die Rechtslage eine Maximaldauer der erstmalig angeordneten SV von 10 Jahren. Sprich nach Verbüßen der Strafzeit schlossen sich maximal 10 Jahre Verwahrung an; danach erfolgte eine Freilassung zwingend.
Ohne konkreten Anlass im Einzelfall hob der Gesetzgeber 1998 diese zeitliche Obergrenze auf, so daß auch die erste Anordnung der SV lebenslänglich, sprich bis zum Tode, vollstreckt werden darf. Jedoch galt diese Gesetzesverschärfung nicht nur für künftige Verurteilungen, sondern auch für jeden und jede, der/die schon verurteilt war, sprich das Gesetz galt "rückwirkend".
Im Jahr 2004 bestätígte das Bundesverfassungsgericht diese Gesetzesänderung und sah keinen Verstoß gegen das grundlegende - schon zu Zeiten der alten Römer geltende - Prinzip des Verbots rückwirkender Strafgesetze. Dabei bediente sich das Verfassungsgericht eines Kniffs: Strafen dürfen rückwirkend nicht erhöht werden; daran hielt das Gericht fest. Bei der SV jedoch handele es sich nicht um eine Strafe, sondern eine "Maßregel der Besserung und Sicherung"; diese diene nicht der Bestrafung für vergangenes Tun, sondern diene rein präventiven Zwecken. Nicht nur Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) sprach von einem "Taschenspielertrick", denn für die Verwahrten stellt sich der Haftalltag faktisch als Strafe dar. Noch 2004 gingen deshalb die ersten Klagen in Strasbourg beim EGMR ein. Dieser ist zuständig für Klagen, in welchen eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte (EKMR) geltend gemacht wird.
2.) Der Fall des Verwahrten M.
M. wurde 1957 geboren und zuletzt verurteilt 1986 vom Landgericht Marburg wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Raub. Es wurde eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren verhängt und zusätzliche SV angeordnet. Seit 1991 sitzt M. in Sicherungsverwahrung und die Gerichte lehnten - gestützt auf psychiatrischen Gutachten - seine Freilassung wegen dessen "Gefährlichkeit" ab.
2001 hätte er - nach alter Rechtslage - entlassen werden müssen, wurde er jedoch in Folge der oben erwähnten Gesetzesänderung weiter inhaftiert.
Das von ihm dann angerufene Bundesverfassungsgericht wies seine Verfassungsbeschwerde zurück, so daß er wegen Verletzung der Artikel 5 (Recht auf Freiheit) sowie Artikel 7 (Rückwirkungsverbot) der EMRK gegen die Bundesrepublik Deutschland Klage beim EGMR erhob. Nach Klärung der Zulässigkeit der Eingabe fand am 01. Juli2008 eine mündliche Verhandlung in Strasbourg (Frankreich)statt, wo der Rechtsanwalt von M. ausführlich zur Situation des Beschwerdeführers vortragen konnte.
Am 17. Dezember 2009 obsiegte M. auf ganzer Linie!
3.) Die Entscheidung des EGMR
In seinem Urteil vom 17.12.2009 (Application no. 19359/04), welches 29 Seiten umfasst, kommt der Gerichtshof zunächst zu dem Ergebnis, daß die SV an sich keinen Verstoß gegen die EMRK darstellt, es sich vielmehr um eine zulässige Form der Sanktionierung handelt.
Jedoch verletze die Gesetzesänderung, mithin die weitere Inhaftierung seit 2001 (als die ursprünglich geltende 10-Jahres-Dauer abgesessen war) seine Menschenrechte aus Art.6 (vgl. im Anschluss aa.) und Art.7 (vgl. bb.), weshalb ihm für die unrechtmäßige Freiheitsentziehung eine Geldentschädigung zustehe (vgl. cc.). Gegen dieses Urteil können die Beteiligten Rechtsmittel einlegen (vgl. dd.)
aa.) Artikel 5 EMRK
Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, daß die von den Gerichten festgestellte Gefahr, daß M. im Falle der Freilassung weitere schwere Straftaten begehen könne, nicht konkret und spezifisch genug war, um ihn weiter hinter Gittern halten zu können. Zudem sei er weder ein psychisch Kranker, noch leide er an einer krankhaften seelischen Störung, so daß die Fortdauer der Haft über die 10-Jahresfrist hinaus Art.5 verletzt.
bb.) Artikel 7 EMRK
Angesichts der Tatsache, daß sich Freiheitsstrafe und SV-Vollzug in der Praxis derart stark ähneln, in Anbetracht des Umstands, daß die SV in normalen Gefängnissen und ohne ausreichende psychologische Betreuung vollstreckt werde, kam der Gerichtshof zu dem Schluss, bei der SV handele es sich im Sinne der Konvention (EMRK) um eine Strafe, so dass das strikte Verbot der rückwirkenden Erhöhung von Strafen eingreife und Deutschland mithin durch die rückwirkende Streichung der 10-Jahres-Obergrenze Art.7 verletzt habe.
cc.) Geldentschädigung
Der Gerichtshof kann im Normalfall dem verurteilten Staat keine bestimmten Anweisungen erteilen, insbesondere kann er nicht (wie etwa der Bundesgerichtshof) Urteile aufheben. somit lässt er es bewenden mit der Feststellung ein Staat habe die Konvention verletzt; und, sofern angemessen, erkennt er eine Geldentschädigung zu. Während M. eine Entschädigung von 172.000 Euro forderte, hielt der Gerichtshof 50.000 Euro für ausreichend.
dd.) Rechtsmittel
Beide Seiten, also M. und die BRD können noch binnen dreier Monate die Verweisung der Sache an die "Große Kammer" beantragen; bis es so weit ist muss die BRD das Urteil auch nicht befolgen, da nur endgültige Entscheidungen den Staat binden. Das Bundesministerium der Justiz hat schon mehrere Verwahrte angeschrieben und um Geduld ersucht sowie die Sach- und Rechtslage erläutert, wie mir Martin S. (der ebenfalls in Strasbourg Klage eingereicht hat) berichtete.
4.) Resümee
Was bleibt nach über 11 Jahren Rechtsstreit? Ein schales Gefühl. Von Anfang an war klar, daß hier ein Rechtsbruch von Seiten des Parlaments begangen wurde. Und betonte noch das Verfassungsgericht 2004, eine Vollstreckung der SV über 10 Jahre hinaus habe die Ausnahme zu bleiben, ist sie heute die Regel. Immer mehr Verwahrte sitzen seit 15, 20 und mehr Jahren in Sicherungsverwahrung ohne jeden Hoffnungsschimmer.
Hier bedeutet das einstimmige Urteil des EGMR, das unter Beteiligung Renate Jaegers (ehem. Richterin BVerfG) zustande kam, einen ersten vagen Funken Hoffnung für die Betroffenen. Freilich schüren BILD, aber auch der SPIEGEL schon die Ängste und warnen davor, daß Dutzende, wenn nicht gar über 70 extrem "gefährliche Verbrecher" bald auf freien Fuß gesetzt werden müssten. Hier hülfe manchmal ein Blick in Statistiken und Untersuchungen: Danach wurde kaum einer derer, die frührer nach 10 Jahren SV entlassen werden mussten, wieder einschlägig oder schwer "rückfällig". Selbst renommierte Gutachter bestätigen, daß 50 - 70 % derer, die man in SV und damit für "gefährlich" hält, in Wahrheit gar nicht gefährlich sind; nur sei man leider nicht in der Lage zu erkennen, wer zu welcher Gruppe (der "Gefährlichen oder der "Ungefährlichen") gehöre.
Offen ist, wie Deutschland reagieren wird, sollte dieses Urteil rechtskräftig werden, ob dann die Betroffenen wirklich entlassen werden.
Keine Geltung besitzt das Urteil für jene, die nach der Gesetzesänderung verurteilt wurden oder bei denen zum wiederholten Male die Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist - ihre Lage bleibt schlicht hoffnungslos. Selbst Einbrecher, die niemanden physisch verletzt haben, sitzen heute über die 10-Jahres-Grenze hinaus in SV. Dies entlarvt die Parole, in der SV säßen nur die "Gefährlichsten der Gefährlichen" als plumpe Lüge. Menschlich gesehen sitzen in der SV arme Kerle: Randständige, ohne finanzielle Mittel, um sich gute Anwälte oder Privatgutachter zu leisten, die eine Unterbringung in der SV verhindern könnten, vielfach auch intellektuell Unterlegene, die sich weder vor Gericht noch vor Gutachtern adäquat auszudrücken vermögen.
Nirgendwo sonst ist die Zahl der Schlägereinen und anderer "besonderer Vorkommnisse" in Strafvollzug so gering wie auf den Abteilungen der Sicherungsverwahrten. Ein weiterer Beleg dafür, daß dort zwar keine Unschuldslämmer, aber gewiss nicht die "Bestien" und "Gefährlichsten der Gefährlichen" einsitzen, wie BILD, SPIEGEL und Politiker von CDU/CSU/SPD behaupten.
Thomas Meyer-Falk
z.Zt. JVA - Z 3113, Schönbornstr.32, D- 76646 Bruchsal
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