de | en


index


texte


soli-aktionen


thomas


links


situation


karikaturen


impressum
Weihnachten im Gefängnis

„Wie verbringen Gefangene Weihnachten?“ Ist das überhaupt eine wesentliche Frage, überlege ich mir gerade. Soviel, wie ich hier in der Zelle (ich sitze in Isohaft) durch Radio und Zeitungen mitbekomme, aber auch durch Briefe, leben die Menschen außerhalb der Mauern unter dem Diktat des „Weihnachtsterrors“, veranstaltet von den Firmen, die ihre Ware absetzen wollen, aber auch veranstaltet von ihnen selbst, weil sie sich aus irgendwelchen, für viele nur schwer in Worte zu kleidende Vorstellungen heraus, selbst unter Druck setzen: ich muß jetzt fröhlich und besinnlich sein, zu Weihnachten sind wir alle – gefälligst – friedlich!

Gemessen daran geht es hinter den Mauern nicht anders zu als im Frühling oder Herbst; graduell verschiebt sich jedoch mitunter die unterschwellig spürbare Stimmung in Richtung Aggressivität. Die allermeisten Gefangenen wären gerne bei ihren Angehörigen, d.h. in Freiheit, und die ihnen via Fernseher oder auch durch Rückschau in die eigene Vergangenheit vermittelten Eindrücke von der (Vor-)Weihnachtszeit frustriert sie.

Hier in der JVA Bruchsal (die Abkürzung steht für Justizvollzugsanstalt, früher schlicht Zuchthaus genannt) hängt in den Hafthausbereichen unter der Decke in ca. 9 Meter Höhe jeweils ein Adventskranz, man muß schon den Kopf weit in den Nacken legen, um ihn dort oben zu bemerken. Und im Erdgeschoß wird kurz vor Heiligabend eine kleine Tanne aufgestellt, mit Lametta und elektrischen Kerzen behängt.

Das „Feiertagsprogramm an Weihnachten 2003“ (Zitat aus einem Aushang der Anstalt) sieht hier in Bruchsal wie folgt aus:



7.15 Uhr
Aufschluß (Zellen werden geöffnet)

8.00 - 10.00 Uhr
Hofgang (d.h. die Insassen können im Hof spazieren)

10.35 Uhr
Mittagessen

11.00 - 14.00 Uhr
Umschluß (bis zu drei Insassen dürfen sich in ein und dieselbe Zelle schließen lassen, z.B. um Karten zu spielen, zu reden...)

14.00 - 15.00 Uhr
Hofgang

15.30 Uhr
Abendessen

16.00 Uhr
Einschluß (d.h. die Insassen werden in ihre Zellen weggeschlossen)

16.30 - 17.30 Uhr
Gottesdienst (wer möchte, wird aus der Zelle geholt, um in der Gefängniskirche am Gottesdienst teilzunehmen)


Es versteht sich wohl von selbst, daß für Gefangene in Isolationshaft dieses „Programm“ noch dürftiger ist, bei mir besteht es aus 60 Minuten alleine im Hof spazieren und den Rest der Zeit in der Einzelzelle (nicht umsonst heißt es ja auch „Einzelhaft“).

Damit es aber auch zur Weihnachtszeit etwas zu lachen gibt, ist hier in der Anstalt die schon manchem bekannte Oberregierungsrätin G. am werkeln (vgl. ihren Einstand „Luftballonaffäre“: "Realsatire aus Knast in Bruchsal" oder ihre sonstigen Ambitionen unter "Knastjuristin bald berühmte Schriftstellerin?").
Als ich kürzlich ein Hüpfseil begehrte, um mich in der Zelle sportlich zu betätigen – nur in einem gesunden Körper soll angeblich ein gesunder Geist wohnen – lehnte die Dame es nicht etwa ab, weil ein Seil in klassischen Ausbrecherfilmen sein Funktion als Fluchtmittel hat, sondern (animiert evtl. von „Schweigen der Lämmer“?) mit der Begründung, dies Seil sei ein „Drosselungsinstrument“. Sie regte zudem an, daß man auch mit einem – Zitat – „imaginären Seil“ die gleichen Bewegungen vollführen könne wie mit einem echten Hüpfseil.

Die Freude beim Landgericht, sich mit der Sinnhaftigkeit und Begründung dieser Verfügung auseinandersetzen zu dürfen, wird unglaublich sein.

Aber zurück zu Weihnachten 2003: ich selbst werde es lesend und Radio hörend verbringen. Seit der Verhaftung 1996 verbrachte ich jedes Weihnachten in strenger Einzelhaft (nur im Frühjahr 1998 war diese kurzfristig etwas aufgelockert, kurz darauf aber wieder vollumfänglich vollstreckt worden) und habe so meine Rituale. Jedes Jahr höre ich mir das Weihnachtsoratorium von Bach im Radio an und ich verbringe, was ich sonst nicht so gerne mache, den Tag im Bett – mit dicken Romanen. Und ehe ich mich versehe, sind diese Tage vorbei, es wird Sylvester und das neue Jahr bricht an...




Creative Commons-Lizenzvertrag           
last modified 23.11.2017 | webmaster