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Meinungsfreiheit im Strafvollzug – stilles Ende einer Affäre

Im September 2003 erhängte sich in der Justizvollzugsanstalt (= JVA) Bruchsal Thomas B.! Sein Suizid machte viele Mitgefangene, die ihn kannten, aber auch die übrigen betroffen, und da die von den Insassen gewählte "Gefangenenvertretung" (= GV) hinter dem Selbstmord Mißstände im Gefängnis vermutete, schrieb sie einen Brandbrief an das Parlament, die zuständigen Fachgerichte, sowie die - damalige – Landesjustizministerin.

Disziplinarische Konsequenzen :

Unmittelbare Folge dieses Briefes war der Rauswurf der Gefangenen G. und L. (auf Anordnung des Anstaltsdirektors MÜLLER) aus der GV und die Verhängung von drei Tagen Arrest ( "Strafvollzug: Folgen einer Selbsttötung"). Der Herr Müller fühlte sich und die wertvolle Arbeit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch "Verbreitung unwahrer Behauptungen" diffamiert. Es gäbe keine Mißstände, der sich suizidierende Gefangene sei korrekt behandelt worden, niemand habe mögliche Vollzugslockerungen in seiner Sache seitens der JVA rechtswidrig verzögert.

Die JVA mußte sich einige Monate später vom Landgericht belehren lassen, daß weder der Arrest noch der Rauswurf aus der GV gerechtfertigt waren; allerdings folgte das Gericht dem Vortrag der JVA, daß die in dem Protestbrief erhobenen Vorwürfe gegen die Anstalt, bezogen auf den Fall des toten Gefangenen, nicht zuträfen.

Das Justizministerium zog gegen den Beschluß des Landgerichts vor das Oberlandesgericht – und verlor. Hatte der Herr Müller nun ein Einsehen und ließ die Sache auf sich beruhen?
Nein! Erneut schloß er die Gefangenen G. und L. aus der GV aus und ordnete diesmal eine mehrwöchige "Freizeitsperre" an (dies bedeutet im Vollzugsalltag, daß der betroffene Insasse nicht an abendlichen Gruppenaktivitäten teilnehmen darf).

Dem von beiden Gefangenen angerufenen Gericht reichte die Sache so langsam: in Eilverfahren ordnete es die vorläufige Außervollzugsetzung der Maßnahmen an, d.h. die JVA durfte sie nicht vollstrecken. Zudem gewährte es Prozeßkostenhilfe und ordnete ihnen Anwälte auf Staatskosten bei.

Einige Monate später entschied das Gericht in der Hauptsache und hob, wie zu erwarten, erneut die Anordnungen der JVA auf und sparte nicht an deutlichen Worten in Richtung Anstalt.

Erst jetzt war der Anstaltsleiter bereit, zumindest juristisch die Sache zu beenden und stellte das Disziplinarverfahren ein. In der Verfügung betreffend Herrn G. heißt es hierzu jedoch, daß die JVA "ausschließlich aus dem Grund darauf verzichtet (Herrn G. zu disziplinieren, T.M.–F.), um das im Zusammenhang mit dem Tod des Gefangenen entstandene unwürdige Schauspiel nunmehr zu beenden und das Andenken des Gefangenen nicht weiter zu beeinträchtigen."

Ob diese späte Einsicht des Herrn Müller ist? Mit viel Wohlwollen könnte jedenfalls diesem Satz zumindest der Ansatz von Selbstkritik entnommen werden, würde nicht zuvor der Anstaltsleiter darauf beharren, daß im Grunde Herr G. dennoch unwahre Behauptungen aufgestellt hätte.

Sonstige Konsequenzen :

Wäre es bei den Disziplinierungsversuchen geblieben, man könnte darüber schulterzuckend hinweggehen und selbige der verletzten Eitelkeit der Anstaltsjuristen zurechnen. Jedoch wurden in Folge des Protestbriefs von 2003 den beiden Gefangenen G. und L. jegliche Vollzugslockerung verweigert. Konkret ging es um von Wärtern begleitete Ausführungen zu Angehörigen der beiden Inhaftierten. Ihnen wurde Flucht – und Mißbrauchsgefahr unterstellt, u.a. auch unter dem Hinweis auf ihr "Verhalten" nach dem Suizid des Mitgefangenen B. 2003.
Ihr Protestbrief, in welchen sie – Zitat – "angebliche Mißstände" aufgezeigt hätten, belege ihre "Unzufriedenheit" mit ihrer eigenen Vollzugssituation, folglich sei eine Flucht – oder Mißbrauchsgefahr nicht auszuschließen.

In einem wahren Prozeßmarathon (Details: " Mobbing im Strafvollzug? Ein bislang unbeachtetes Phänomen?") des Herrn L. bedurfte es erst mehrerer Entscheidungen der Gerichte sowie einer Dienstaufsichtsbeschwerde an die Justizministerin, um die Anstalt dazu zu bewegen, ihm wieder Ausführungen zu gewähren.
Und Mitte Dezember 2004 erhielt nunmehr auch Herr G. von der Gefängnisleitung (vertreten durch Frau Oberregierungsrätin G; manchen vielleicht noch als Oberregierungsrätin X bekannt) ab 2005 Ausführungen bewilligt.

Ende gut – alles gut? Bei den über ein Jahr dauernden juristischen Streitigkeiten wurden Steuergelder, überschlägig geschätzt, in fünfstelliger Höhe verpulvert, der Prozeß der Resozialisierung der Herren G. und L. lag über ein Jahr brach und letztendlich geriet auch der Anlaß völlig aus dem Blick: der Tod von Thomas B.!


"Immer
dort wo Menschen sterben
werden Stein und Stern und so viele Träume
heimatlos"

(frei nach Nelly Sachs)




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last modified 23.11.2017 | webmaster